Als ich das erste Mal wegen meiner Colitis operiert werden musste, fragte mich der Arzt beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus, ob ich besonders viel Stress hatte, als die Symptome der Darmentzündung anfingen.
Obwohl meine Beschwerden, wie Durchfall, Müdigkeit und Blut im Stuhl, schon 8 Jahre vor diesem Gespräch begannen, konnte ich mich gut daran erinnern, dass ich zu dieser Zeit tatsächlich unter Dauerstress stand.
Einige Zeit nach diesem Gespräch fiel mir dann ein, dass ich schon vor ein paar Jahren einen sehr interessanten Beitrag über die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem in der Fernsehsendung „Scobel“ gesehen hatte.
Dort diskutierte eine Reihe von Experten darüber, wie unsere Psyche unser Nerven-, Hormon- und Immunsystem beeinflusst und warum im Extremfall auch Autoimmunerkrankungen, wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, entstehen können, wenn wir längere Zeit gestresst sind.
Der Forschungszweig, der sich mit diesem Thema beschäftigt, heißt Psychoneuroimmunologie. Einer der Gäste der Sendung, Christian Schubert, hat das Standardwerk zu diesem Thema: „Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie“ geschrieben.
Als ich die Diskussion der Experten verfolgte, war ich völlig verblüfft, wie genau sie erklären konnten, was Stress in unserem Körper anrichtet und wie man mit Methoden, wie Psychotherapie und Meditation, dagegen steuern kann.
Kein Arzt, der mich bis dahin wegen meiner Colitis behandelt hatte, hat jemals erwähnt, dass Stress eine so wichtige Rolle bei Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa spielen kann.
Obwohl ich das Thema total spannend fand und mehr wissen wollte, waren mir die 80 Euro für das erwähnte Buch einfach zu viel.
Zum Glück ist eine sehr gute Übersichtsstudie1 zu dem Thema kostenlos online zugänglich. Sie zeigt, wie Stress die Darmwand durchlässiger macht und so zu einer Belastung mit Bakteriengiften und einer chronischen Entzündung im Körper führt.
Die Autoren betonen dabei, dass diese chronische Entzündung Merkmal aller chronischen Krankheiten, wie Diabetes Typ 2, Depression, des chronischen Müdigkeitsssymdroms oder Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist.
In diesem Artikel versuche ich die Ergebnisse der Studie mal so einfach wie möglich zusammenzufassen.
Leaky Gut durch Stress!
Alles beginnt damit, dass unser Körper unter Stress versucht, sich auf die erhöhten Anforderungen der Stresssituation einzustellen.
Dazu nimmt er über den Darm vermehrt Wasser, Salz und energiereiche Substanzen auf und verteilt sie an die Stellen im Körper, wo sie gebraucht werden.
Damit die benötigten Stoffe durch die Darmwand gelangen, aktiviert das sympathische Nervensystem den sogenannten Natrium/Glucose-Cotransporter (SGLT-1), ein Protein in der Zellmembran von Säugetieren, dass beim Menschen dafür zuständig ist, dass Salz und die Einfachzucker Glucose und Galactose vom Darm in den Körper aufgenommen werden.
Normalerweise wird der Spalt zwischen zwei Zellen der Darmwand durch die Tight Junctions verschlossen. Das sind schmale Bänder aus Membranproteinen, die Nachbarzellen miteinander verbinden.
Diese Tight Junctions bilden eine Barriere zwischen den Zellen, damit genau kontrolliert werden kann, welche Moleküle die Darmwand passieren. So können Wasser und Nährstoffe gezielt in den Körper aufgenommen, und krankmachende Stoffe, wie Lebensmittel-Antigene und Bakterien, ferngehalten werden.
Wird nun das Transport-Molekül SGLT-1 aktiviert, verändert das Enzym Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLKK) in der Darmwand die Tight Junctions so, dass sie durchlässiger werden.
Dadurch beginnt eine verhängnisvolle Kettenreaktion, die ich bereits im Artikel „Sind Bakteriengifte die Ursache für Morbus Crohn und Colitis ulcerosa?“ beschrieben habe:
Über die durchlässigere Darmwand treten jetzt nicht nur Wasser, Salz und Zucker durch die Darmwand, sondern auch Bakteriengifte aus der natürlichen Darmflora und den Lebensmitteln, die wir essen!
Das sieht dann ungefähr so aus:
Auf der Abbildung kann man gut sehen, dass die Darmwand nicht nur, durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems und des Transporters SGLT-1, durchlässiger wird. Auch die Bakteriengifte, die nun in den Körper strömen, machen die Darmwand durchlässiger, indem sie Immunzellen zur Freisetzung von Entzündungsbotenstoffen anregen, die wieder über das Enzym MLKK den Spalt zwischen den Darmzellen vergrößern.
Wenn man jetzt den Blick nicht nur darauf richtet, was bei Stress direkt an der Darmwand passiert, sondern im ganzen Körper, sieht man das diese Vorgänge nur ein kleiner Ausschnitt der Wahrheit sind — in Wirklichkeit sind die körperlichen Reaktionen bei Stress sehr kompliziert und auch das Gehirn, das Nervensystem und verschiedene Hormondrüsen, wie die Nebennieren, sind daran beteiligt.
Die Stressachse
Die Wissenschaft erkennt immer mehr, wie eng die Verbindungen zwischen Darm und Gehirn sind. So geht man mittlerweile davon aus, dass eine Veränderung der Darmflora die Ursache für Depressionen sein kann und man spricht vom Darm als dem Zweiten Gehirn, das mehr Nervenzellen enthält, als das Rückenmark.
Eine Schlüsselrolle bei dieser Verbindung spielt dabei die sogenannte Stressachse.
Damit meint man das Zusammenspiel der 3 Hormondrüsen, Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde, deshalb auch genannt: HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse).
Bei körperlichem und psychischem Stress wird über diese Stressachse z. B. die Freisetzung der Hormone Adrenalin und Cortisol, durch die Nebennieren, veranlasst.
Dies geschieht, indem der Hypothalamus im Gehirn die Hormone CRH und AVP bildet, die wiederum die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) dazu anregen, das Hormon ACTH zu bilden, das dann das Signal für die Nebennieren ist, Cortisol und Adrenalin auszuschütten.
Adrenalin sorgt dann dafür, dass die Darmtätigkeit gehemmt wird, Herzschlag und Blutdruck steigen und, durch die Umwandlung von Fett und Eiweiß in Zucker, schnell Energie bereitgestellt wird.
Ein entscheidender Punkt ist dabei, dass auch die Darmwand von sympathischen Nervenfasern durchzogen ist, die auf das freigesetzte Adrenalin und Noradrenalin reagieren und so die Darmwand durchlässiger machen, damit Wasser und Nährstoffe vom Darm in den Körper gelangen.
Wie in der Abbildung oben gezeigt, geschieht dies über die Aktivierung des Transporters SGLT-1, der über das Enzym MLKK die Tight Junctions im Spalt zwischen den Darmzellen durchlässiger macht.
In der folgenden Abbildung sind die Vorgänge der gesamten Stressachse schematisch dargestellt:
In der Abbildung sieht man auch, dass die Nebennieren bei Stress nicht nur Adrenalin und Noradrenalin, sondern auch Cortisol freisetzen.
Cortisol wirkt entzündungshemmend und wird deshalb auch als Medikament bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa eingesetzt.
Und genau deshalb wird es auch bei Stress vom Körper selbst ausgeschüttet: Es soll dafür sorgen, dass die Reaktion des Immunsystems nicht aus dem Ruder läuft und die Entzündung wieder abklingt, sobald der Stress vorbei ist.
Und genau an dieser Stelle scheint, bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, Sand im Getriebe zu sein: Die Entzündung klingt nicht ab und wird chronisch!
Wie der Körper Entzündungen wieder auflöst!
Früher dachte man, dass Entzündungen von ganz alleine wieder abklingen, weil das Immunsystem nach einiger Zeit „müde“ wird.
Heute weiß man, dass nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende einer Entzündung durch das Sympathische Nervensystem und die Stressachse gezielt eingeleitet wird.
Dieses gezielte Beenden der Entzündung wurde „Resoleomics“ getauft, von englisch resolution = Auflösung. Durch diesen Mechanismus findet unser Körper nach Verletzung, Entzündung und Infektion immer wieder ins Gleichgewicht.2
Während am Anfang einer Stresssituation das Sympathische Nervensystem die Entzündung in Gang bringt, sorgt die verzögerte Freisetzung von Cortisol über die Stressachse dafür, dass die Entzündung wieder abklingt.
Damit die Auflösung der Entzündung durch das Cortisol funktioniert, ist es notwendig, dass die Rezeptoren des Immunystems die Signale des Cortisols auch empfangen. Man spricht dann von Cortisol-Sensitivität.
Bei chronischen Krankheiten, wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, beobachtet man aber genau das Gegenteil, eine sogenannte Cortisol-Resistenz, die man z. B. auch bei Patienten mit Stress und Trauma in der Kindheit beobachtet hat.3
Es ist aber nicht nur psychischer Stress, der auf diese Weise chronische Entzündungen auslösen kann. Auch eine veränderte Darmflora (Dysbiose), zu fettes Essen, fehlende Bewegung und Informationsüberflutung durch Email und soziale Medien, aktivieren ständig unsere Stressachse und können auf Dauer dazu führen, dass Entzündungsprozesse angestoßen, aber nicht mehr gestoppt werden.
Unser Immun- und Stresssystem ist evolutionsbedingt darauf ausgerichtet mit kurzen und intensiven Bedrohungen umzugehen und nicht mit einer lang andauernden chronischen Stimulierung: Mit dem Säbelzahntiger kann es umgehen — mit stressiger Schreibtischarbeit, Fast-Food und E-Mail-Flut aber nicht!
In den letzten Jahren haben sich die Ansichten über die Behandlung von Entzündungen geändert, da man es zwar geschafft hat, mit Medikamenten die Entzündungsantwort zu kontrollieren, indem man gegen die eindringenden Immunzellen vorgeht, aber auch erkannt hat, dass dies nicht zur kompletten Auflösung der Entzündung und der Rückkehr zum körperlichen Gleichgewicht führt.
Deshalb schlagen die Autoren dieser Studie vor, dass Maßnahmen, wie die Änderung der Ernährung, die Auflösung von psycho-emotionalem Stress und körperliche Aktivität, immer ein Bestandteil bei der Behandlung von chronisch-entzündlichen Kranheiten, wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, sein sollten.
Fazit
Auch wenn noch nicht endgültig bewiesen ist, was die Ursachen von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind, scheint alles damit zu beginnen, dass Faktoren, wie ständiger Stress und falsche Ernährung, unsere Darmwand durchlässiger machen und dann Bakteriengifte in den Körper strömen, die wiederum die Entzündung in Gang setzen.
Wenn man selbst CED-Patient ist, kommt natürlich hinzu, dass die Krankheit selbst ein unheimlich großer Stressfaktor ist.
Wenn man jede Nacht mehrmals aufstehen muss, weil man Durchfall hat, unterwegs ständig Angst hat, nicht rechtzeitig eine Toilette zu finden und körperlich so gebeutelt ist, dass man nicht mehr richtig arbeiten kann, ist das ein Wahnsinns-Druck, der auch seelisch seine Spuren hinterlässt.
Umso wichtiger ist es, dass man sich als CED’ler professionelle Hilfe sucht. Und dazu gehört nicht nur die körperliche Behandlung mit Entzündungshemmern, sondern auch die Unterstützung durch Psychotherapie und alternative Heilverfahren, wie Meditation.
Wenn Du ein paar Anregungen in dieser Richtung haben möchtest, kannst Du dir die Aufzeichnung der oben erwähnten Fernsehsendung mit dem Titel „Heile Dich selbst!“ in der Mediathek anschauen.
Quellen:
- 1 de Punder K, Pruimboom L, Stress Induces Endotoxemia and Low-Grade Inflammation by Increasing Barrier Permeability, Front Immunol., Mai 2015, (Stress löst Endotoxämie und niedrig-gradige Entzündung durch eine Erhöhung der Barrieredurchlässigkeit aus)
- 2 Bosma-den Boer MM et al., Chronic inflammatory diseases are stimulated by current lifestyle: how diet, stress levels and medication prevent our body from recovering, Nutr Metab (Lond.), April 2012, (Chronisch-entzündliche Erkrankungen werden durch den heutigen Lebensstil stimuliert: Wie Ernährung, Stresslevel und Medikation verhindern, dass unser Körper wieder gesund wird)
- 3 Danese A et al., Elevated Inflammation Levels in Depressed Adults with a History of Childhood Maltreatment, Arch Gen Psychiatry, April 2008, (Erhöhte Entzündungslevel bei depressiven Erwachsenen mit einer Geschichte von kindlicher Misshandlung)